Volker C. Dützer
 

Connys Schreib-Blog

Noch gleicht diese Rubrik dem Anfang eines Romans, nämlich einer leeren Seite mit einem blinkenden Cursor. Doch das soll sich bald ändern. Für alle, die interessiert, wie ein Buch entsteht, werde ich an dieser Stelle in unregelmäßiger Reihenfolge Einblicke in das "Auf die leere Seite starren" und das verzweifelte "In-der-Nase-Bohren" eines Ghostwriters gewähren.



29.08.2021

"STURMTOD"

Mal wieder habe ich viel zu viel Zeit verstreichen lassen, ohne meinen Schreib-Blog mit Leben zu füllen. Zum einen waren die vergangenen Monate mit dem Lektorat an „Die Ungerächten“ ausgefüllt, zum anderen wartete da ja auch noch mein Cornwall-Krimi „Sturmtod“ auf eine letzte Überarbeitung. Dazu kam dann noch die freudige Nachricht, dass „Die Spur“ neu aufgelegt wird und unter dem Titel „Morgen bist du tot“ im Oktober 2021 bei Digital Publishers erscheint. Ich wollte mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, einige Szenen und Kapitel umzuschreiben, mit denen ich 2016 nicht so ganz zufrieden war. Besser geht eben immer.

Doch heute soll es in meinem Blog über die Entstehung von „Sturmtod“ gehen. Ich hätte mir in der Tat nicht träumen lassen, mal einen Roman zu schreiben, der in Cornwall spielt. Wie kam es dazu?

Zum einen braucht jede Geschichte den passenden Handlungsort. Ein Roman wie „Via Mala“ von John Knittel hätte unmöglich in der Bretagne spielen können, weil Figuren und Handlung viel zu eng mit der Landschaft von Graubünden und der titelgebenden Straße verknüpft sind. Ich wollte zudem auf keinen Fall einen Ostseekrimi schreiben, davon gibt’s mehr als genug. Meine Heimat, der Westerwald, hatte sich in der Vergangenheit auch nicht gerade als Zugpferd erwiesen, also wo sollte ich die Handlung spielen lassen?

In meiner Schublade liegen so viele Ideen, dass ich das Ding manchmal nur noch mit Gewalt schließen kann. Viele von ihnen kamen bis jetzt nicht zur Realisierung, weil sie ihren „Soulmate“ noch nicht getroffen haben. Auf sich allein gestellt, fristen sie ein Dasein am Rand des Vergessens. Erst, wenn sie sich gewissermaßen in einen zweiten Einfall verlieben, kann es sein, dass es Zoom macht. Und so war es auch bei „Sturmtod.

Immer, wenn ich einen neuen Roman beginnen will, durchforstete ich den ansehnlichen Stapel Notizhefte und Schreibkladden, der sich neben meinem Schreibtisch auftürmt, und in denen ich jeden Einfall festhalte, sei er noch so abgefahren. Ich stieß auf eine Idee, die ich in verschiedenen Versionen mehrfach befingert, getätschelt, geschüttelt und gerührt hatte, aber ein Roman war dabei nicht herausgekommen. Es ging dabei um einen Serienmörder, der Anfang des 20. Jahrhunderts sein Unwesen treibt, in seinem unheimlichen Haus spurlos verschwindet und in der Gegenwart wieder auftaucht, um neue Verbrechen zu begehen. Ich ging mehrere Möglichkeiten durch: War er tatsächlich durch die Zeit gereist? Oder war der Mörder im Hier und Jetzt nur ein Nachahmer? Ich spielte im Lauf der Jahre immer wieder mit dieser Idee herum, konnte und wollte sie aber nicht umsetzen. Schließlich befreite ich sie von dem überflüssigen Ballast der Zeitreise, legte den Kern frei und übrig blieb ein geheimnisumwitterter Mann, der in seinem eigenen Haus verschwindet. (Eine Idee, die ich auch in der Kurzgeschichte „Schwarzer Regen“ so ähnlich umgesetzt hatte.)

Während ich mit verschiedenen Entwürfen herumspielte, beschäftigte ich mich nebenher mit dem Entwurf eines Romans, der die furchtbaren Zustände in den katholischen Kinderheimen in der 50er und 60er Jahren zum Thema haben sollte. Ich war darauf gestoßen, als ich eine Fernsehdokumentation über ein ehemaliges Kinderheim in Tuam, Irland sah. Spielende Kinder hatten dort die Überreste von mindestens achthundert Säuglingen und Kindern gefunden. Ich begann, mich mit der Historie der Heime zu beschäftigen und kam so zu den Workhouses, den englischen Arbeitshäusern, die noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts betrieben wurden. Allmählich kristallisierte sich die Figur des Henry Maugham heraus, einem Armenarzt, der in einem einsamen Haus über den Klippen lebt und von der perfekten Schönheit besessen ist. Er bereist die Arbeitshäuser von Cornwall und Südengland und benutzt seine Stellung, um … aber hier will ich nicht zu viel verraten. Auf jeden Fall hatte ich den Schurken meiner Geschichte gefunden. Der Schauplatz ergab sich dadurch automatisch, zumal Cornwall für seine Mythen und Legenden berühmt ist.

Ich hatte also ein Setting und einen herrlichen Schurken – und ein bisschen Glück, denn im Augenblick sind genealogische Krimis gefragt, also Romane, in denen ein Verbrechen geschieht, dass in irgendeiner Weise mit der Familiengeschichte der Hauptfigur zu tun hat. Und das führte mich direkt zu meiner Heldin Jennifer.

Ein Element der Heldenreise, nach der ich meine Romane aufbaue, ist es, dass der Held zu Beginn der Handlung aus seiner Alltagswelt gerissen wird und ihn der Ruf des Abenteuers ereilt. Manchmal weigert er sich, diesem Ruf zu folgen, aber dann geschieht etwas, das ihn überzeugt, seine Heldenreise anzutreten. Ein berühmtes Beispiel dafür ist „Star Wars“. Wohl jeder kennt die Szene, in der Obi Wan Kenobi den jungen Luke Skywalker auffordert, sich am Kampf gegen das böse Imperium zu beteiligen. Luke weigert sich, ist noch nicht bereit dazu. Erst als die Sturmtruppen seinen Onkel und seine Tante ermorden, schließt er sich Obi Wan an.

Für „Sturmtod“ hatte ich mir die junge Jennifer ausgedacht. Sie sollte die Frau der 1000 Jobs sein, jemand, der immer wieder alles hinwirft, wenig Selbstvertrauen hat und obendrein noch Pech. Erst als sie den Mut findet, eine Straftat zu verhindern, ändert sich ihr Leben – allerdings nicht so, wie sie sich das vorgestellt hat. Der Täter, den sie erkannt hat und beschreiben kann, verfolgt sie, um sich an ihr zu rächen. Sie überlebt einen Brandanschlag, wird schwer verletzt und behält eine entstellende Narbe zurück. Da sie weiterhin damit rechnen muss, dass der Mörder sie aufspürt, muss sie untertauchen. Aber ihr fehlen die Mittel und die Erfahrung dazu. In diesem Moment macht sie eine überraschende Erbschaft und flieht nach … ja, richtig, nach Cornwall. Dort lernt Travis Sayer kennen, der für einen Mord im Gefängnis gesessen hat, den er nicht begangen hat. Er kehrt in seinen Heimatort, das kleine Fischerdorf Pennack zurück, um den wahren Täter zu finden.

Auch jetzt verliebten sich wieder zwei Ideen, die zunächst nichts miteinander zu tun hatten: Die Heldin, die in einem Dilemma steckt und vor einer Gefahr flüchtet, die sie in eine ihr unbekannte Umgebung führt (in der Heldenreise nennt man diesen Ort den mythischen Wald.) – und die Figur des Outlaws, der verfolgt oder bestraft wird, obwohl er unschuldig ist, und der seine Unschuld zu beweisen versucht. Aber etwas stimmte nicht, ganz und gar nicht; und das war die Geschichte von Jennifer. Meine Agentin stieß mich mit der Nase darauf, obwohl ich es instinktiv schon gespürt hatte. Die Handlung, die in Deutschland spielte, und die erst zu dem unerwarteten Erbe führen sollte, war viel zu lang. Erst auf Seite 100 etwa betrat die Heldin zum ersten Mal den eigentlichen Schauplatz Cornwall. Ich tat das, was ich schon so häufig gemacht habe: Ich warf die ersten achtzig Seiten in den Papierkorb und fing neu an.

Wieder musste ich zunächst den Kern dessen, was wirklich wichtig war, freilegen, und das war Jennifers Erbe. Im Roman erbt sie das Haus ihres Vorfahren Henry Maugham, jenes Armenarztes, der spurlos verschwand, und den seitdem ein unheimliches Geheimnis umgab.

Die entstellende Narbe durfte und sollte Jennifer behalten. Gute Romanhelden stehen immer in irgendeiner Form außerhalb der Gesellschaft, sie sind Outlaws, die sich ihren Weg zurück erkämpfen müssen. Jennifer erleidet daher zu Beginn einen schweren Schicksalsschlag. Bei einem Brand in einer Berghütte stirbt ihr Verlobter, Jennifer überlebt schwer verletzt. Ihr Leben steuert sehr schnell auf einen absoluten Tiefpunkt zu. Sie verliert ihren Job, den Mann, den sie liebt, und durch ihre Entstellung ist sie fortan gehemmt, sich in die Gesellschaft anderer Menschen zu begeben. Jeder starrt sie an, als wäre sie das Phantom der Oper. An diesem Wendepunkt erfolgt dann der Ruf des Abenteuers, wie ihn die Heldenreise verlangt. Jennifer erbt unerwartet ein Vermögen und ein Haus in Cornwall.

Was meiner Heldin noch fehlte, war eine ausreichende Motivation, um nach Cornwall zu gehen. Sie hätte ja auch einfach das Geld nehmen und sich nicht um die alte Bruchbude über den Klippen von Pennack kümmern müssen. Doch zum einen kommt es ihr sehr gelegen, sich aus dem Staub zu machen, denn in Cornwall kennt sie niemand. Trotzdem werden die Leute einen Bogen um sie machen, wenn sie die Brandnarbe auf ihrer Wange sehen.

Ich ließ meine Heldin zunächst, wo sie war, nämlich im Krankenhaus, und beschäftigte mich mit den Schauplätzen. Ich gestehe, ich war noch nie in Cornwall. Eigentlich wollte ich meinen Urlaub im vergangenen Sommer dort verbringen, aber die Corona-Epidemie machte mir einen Strich durch die Rechnung. Ich durchstöberte also das Internet und sog alles auf, was ich über Cornwall finden konnte. Sehr schnell stieß ich auf eine Besonderheit: die wunderschönen cornischen Gärten.

Oft weiß ich nicht, woher meine Ideen kommen. Ich schätze, dass sie jahrzehntelang in einem Winkel meines Gehirns schlafen, dass bestimmte Bilder irgendwo abgespeichert sind und nur die nötigen Reize brauchen, um geweckt zu werden. So war das auch mit dem Maugham-Garten. Es dauerte nur eine Sekunde und mir war klar, dass die Idee perfekt passte: ein alter verwilderter Garten, der darauf wartet, zum Erblühen gebracht zu werden.

Romanhelden brauchen bestimmt Eigenschaften, darunter eine, die man beherrschende Leidenschaft nennt – etwas, das den Helden antreibt, ein tief empfundenes Verlangen, sein Ziel zu erreichen. Außerdem haben sie in der Regel ein besonderes Talent, etwas seltenes, das andere Menschen nicht können. Es macht sie zu interessanten Charakteren, die man gerne kennenlernen will. Kurzum, Jennifer liebt Blumen und Pflanzen und sie hat einen mordsmäßig grünen Daumen. Unter ihren Händen erblüht alles, was Wurzeln bilden kann. In der Geschichte hat sie bisher niemals die Gelegenheit gehabt, diese Leidenschaft auszuleben. Sie hat kein Geld und besitzt keinen eigenen Garten, und genau das hat sie sich immer gewünscht. Ich ließ sie also einfach aus Gründen der Testamentseröffnung nach Cornwall reisen, wo sie den Garten zum ersten Mal sieht. Es ist Liebe auf den ersten Blick, sie MUSS diesen Garten in das Paradies verwandeln, das er einst war. Der Garten ermöglichte mir zudem einen literarischen Kniff, eine Art Leitmotiv: Je mehr er wieder unter Jennifers Händen erblüht, desto mehr heilt ihre entstellende Verletzung. Sie zieht in das unheimliche, baufällige Haus auf den Klippen, stößt auf ein Familiengeheimnis und natürlich auf jede Menge Widerstände. Die ihr bisher unbekannte Verwandtschaft ist nicht gerade entzückt, dass ihr eine halb verrückte junge Deutsche ihr die Erbschaft vor der Nase weggeschnappt hat.

Sie brauchte also jemanden, der ihr beisteht. Und wer könnte diese Rolle besser spielen als Travis Sayer, der Mann, der nach Pennack zurückkommt, um den Mörder seiner Freundin zu suchen, die in dem alten Garten spurlos verschwunden ist – genauso wie Jennifers Ahn Henry Maugham … 



02.05.2020

Viele Leute fragen mich immer wieder, wie man das eigentlich macht, einen Roman schreiben. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, an dieser Stelle gewissermaßen in Echtzeit die Entstehung eines Manuskripts zu schildern. Allerdings ergibt sich dabei ein Problem, das ich so nicht vorhergesehen hatte: Im Fall eines Krimis oder Thrillers würde ich vorab viel zu viel verraten. Daher nur eine kurze Erklärung dazu:

"Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie sich durch Nachdenken, in die Luft starren, tausend Irr-und Umwegen, herumkritzeln und einem Chaos aus Einfällen, sich gegenseitig beeinflussenden Ideen und einer offenbar unendlich verfügbaren Menge Beharrlichkeit die immer klarer werdende Struktur eines Romans entwickelt. Zum Schluss lässt sich die Handlung in wenigen Sätzen deutlich umschreiben. Die Figuren beginnen zu atmen und zu leben. Halb vergessen geglaubte Geistesblitze, die sich als überaus störrisch erwiesen haben, und die auf den ersten Blick gar nichts miteinander zu tun haben, verlieben sich plötzlich und verschmelzen zu etwas Neuem. Und ich sitze staunend davor und frage mich: "Wo ist das bloß alles hergekommen? Wie in aller Welt hast du Gipskopf das geschafft? Die Antwort lautet: Ich weiß es nicht. Wirklich nicht."

Was allerdings - ernsthaft nun - tatsächlich helfen kann, ist die oben beschriebene Beharrlichkeit, mit der ich  im Übermaß gesegnet bin. Ich gebe ungern auf und bringe Sachen gerne zu Ende. Leider bin ich auch sehr ungeduldig, ich mag Dinge, die schnell gehen. Wenn ich nicht in einer halben Stunde Klarheit über die Struktur eines kompletten Romans habe, kann ich schon mal grummelig werden. Allmählich lerne ich, dass es Zeit braucht, einen Roman zu schreiben, und dass viele kleine Schritte notwendig sind. Manchmal muss ich auch riesige Umwege gehen. Immer wieder verblüfft es mich, dass Ideen, die auf den ersten Blick überhaupt nichts miteinander zu tun haben, und die ein stilles Dasein in meiner Schublade fristen, auf andere einsame Einfälle treffen. Manchmal verlieben sie sich und bringen Nachwuchs zur Welt, von dem ich selbst überrascht bin.

Wer hätte gedacht, dass ich mal einen Thriller schreiben würde, der in Cornwall spielt? Ich sicher nicht. Doch nachdem ich mit "Die Unwerten" schriftstellerisches Neuland betreten habe, und der Roman bei meinen Leser sehr gut ankommt, bin ich ein bisschen mutiger geworden. Ich kann alle Thrillerfans sofort beruhigen, ich verwandle mich nicht in einen männlichen Rosemunde-Pilcher-Verschnitt, aber ich möchte wieder etwas Neues, Ungewöhnliches und doch Vertrautes ausprobieren. Lasst euch überraschen.




30.12.2019

Die Entstehung von "Die Unwerten"

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, meinen Schreib-Blog regelmäßig mit Einblicken in die Entstehung meiner Bücher zu füllen, doch nun muss ich feststellen, dass der letzte Eintrag vom 23.02. stammt. Irgendwie kommt immer etwas dazwischen. Dabei bietet gerade der Werdegang meines neuen Romans "Die Unwerten"  genug Stoff für eine eigene Geschichte. Eigentlich habe ich auch jetzt keine Zeit, denn ich arbeite schon mit Hochdruck an einer Fortsetzung. Da "Die Unwerten" aber in Kürze herauskommt, möchte ich jetzt schon ein paar Hintergrundinformationen dazu preisgeben, denn die Geschchte wird sicher bei meinen Lesern viele Fragen aufwerfen.

Als ich das Projekt nach langem Zögern endlich ernsthaft in Angriff nahm, fragte ich mich schnell, was mich dazu getrieben hatte, ein so ernstes und düsteres Thema wie die Euthanasieverbrechen der Nazis als Hintergrund für einen Roman zu verwenden. Um das zu erklären, muss ich ein bisschen ausholen, denn die erste Idee für diese Geschichte liegt schon viele Jahre zurück.

Wer meine Bücher kennt, weiß, dass ich gerne Geschichten erzähle, die Elemente enthalten, die zwar noch nicht heute, aber aller Voraussicht nach in naher Zukunft Wirklichkeit werden könnten. In "NEXX-Die Spur" habe ich darüber nachgedacht, ob man tatsächlich die Zukunft vorhersagen könnte, wenn man den entsprechenden Algorithmus und genügend Speicherplatz zur Verfügung hat, in "Jenseits der Nacht" wollte ich wissen, ob wir irgendwann in der Lage sein werden, den eigenen Tod abzuwenden, und was danach geschieht.

Ein Thema, dass mich schon immer fasziniert hat, sind Zeitreisen. Und so ist es nicht verwunderlich, dass in meiner Schublade ein Entwurf für einen Roman ruht, in dem Menschen (unfreiwillig) durch die Zeit reisen. Die Geschichte war gut durchdacht, mit all den Tücken und Schleifen einer Zeitreise. Ich stieß aber damals auf ein Hindernis, das mich davon abhielt, das Buch auch zu schreiben. Zeitreiseromane verkaufen sich schlecht, wenn man nicht gerade Michael Crichton heißt. Deshalb blieb der Entwurf jahrelang in meiner Schublade, bis etwas passierte, was häufig geschieht, wenn ein Roman entsteht. Die alte Idee der von den Nazis gebauten Zeitmaschine, die nie funktioniert und 70 Jahre lang Energie schluckt, bis sie plötzlich anspringt und Menschen aus der Gegenwart in die Vergangenheit schickt, traf auf eine zweite Idee.

In einem Dorf werden kurz vor Ende des 2. Weltkriegs vier Deserteure von regimetreuen Einwohnern festgehalten. Ein einberufenes Feldgericht verurteilt die jungen Männer zum Tod, das Urteil wird vollstreckt.

Ich weiß nicht mehr genau, wann und wo ich zum ersten Mal von dieser Sache hörte. Ich meine mich erinnern zu können, dass ich im Wartezimmer eines Arztes saß und davon in einer Illustrierten las. Die Geschichte ließ mich nicht los. Ich schrieb ein paar Stichpunkte in eine meiner Schreibkladden und vergaß die Notiz.

Als ich Mitte 2018 nach Stoff für einen neuen Roman suchte, empfahl mir meine Agentin, es mal mit einem Nachkriegskrimi zu versuchen, weil die damals - und auch heute noch - boomen. Man denke nur an Babylon-Berlin. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt die Nase ein bisschen voll von Thrillern, in denen sich alles um den Kommissar X und den Serienmörder Y dreht, und  hatte gute Lust, mal etwas anderes auszuprobieren. Fast sofort fiel mir wieder die Geschichte der jungen Deserteure ein, die sich nicht in einem sinnlosen Gemetzel opfern wollten, die Flucht ergriffen und doch den Tod fanden.

Was hat diese Idee nun mit der Zeitreise zu tun? Erst mal gar nichts. Aber zu jedem Verbrechen gehört eine Vorgeschichte. Bevor ich Kapitel 1 eines Kriminalromans beginne, habe ich auf vielen Dutzenden Seiten festgehalten, was passiert ist, bevor die eigentliche Geschichte beginnt. Bei "Jenseits der Nacht" führte das übrigens dazu, dass das Ende des Romans ursprünglich als Anfang geplant war. Da aber damals viele Bücher auf dem Markt waren, in denen die Hauptfigur das Gedächtnis verliert und im Lauf der Handlung mühsam wiederfindet ...  aber das führt mich jetzt zu weit vom Thema weg.

Ich begann die Vorarbeiten für "Die Unwerten" (das Buch trug damals noch den Arbeitstitel "Das Geheimnis der Wolkenbilder") also damit, dass vier Deserteure in einem kleinen Dorf kurz vor Kriegsende erschossen werden. Ich brauchte natürlich jemanden, der den Mörder sucht, einen Täter und und und. Je länger ich über die Ausgangssituation nachdachte, desto mehr wurde mir klar, dass ich sehr viel tiefer in die Lebensgeschichten der Opfer eindringen musste. So sehr ich auch das Internet durchsuchte, die tatsächliche Begebenheit, über die ich gelesen hatte, fand ich nicht mehr. Dafür stieß ich auf etwas anderes.

Ideen sind wie Legosteine, die kunterbunt in einer großen Kiste herumliegen. Aus ihnen lassen sich Geschichten zusammenbauen, darum schreibe ich jede meiner Ideen auf, damit sie nicht verloren gehen. Nur mit dem Wiederfinden hapert es manchmal, weil ich in meinen Schreibkladden und Ideenheften einfach kein funktionierendes Ablagesystem habe. Ab und zu muss ich tief graben, um den richtigen Stein zu finden, der zu den anderen passt.

Diesmal verbarg sich dieser Stein in dem alten Zeitreiseroman, den ich nie geschrieben hatte. Ich mag Geschichten, in denen es um Savants geht. Savants sind häufig Autisten, die kaum in der Lage sind, ein nach unseren Maßstäben normales Leben zu führen, dafür aber ein einzigartiges Talent besitzen. Manche lernen innerhalb einer halben Stunde perfekt Klavier zu spielen, andere besitzen ein fotografisches Gedächtnis. In "NEXX-Die Spur" ließ ich einen autistischen Jungen den Algorithmus erfinden, mit dem man die Zukunft vorhersagen kann. Nun würden manche Mitmenschen Autisten als behindert bezeichnen. Ich mag den Ausdruck nicht; ich finde, sie sind besonders, anders, und deshalb um so wertvoller. Das brachte mich schon öfter zu der Überlegung, was ist eigentlich ein Mensch wert? Und wer bestimmt den Wert eines Menschen? Was ist denn eigentlich normal?

In dem Entwurf des Zeitreiseromans ließ ich eine autistische Tochter Einsteins auftreten, die aufgrund der andersartigen Denkstruktur ihres Gehirns in der Lage war, aus den Überlegungen ihres genialen Vaters eine Zeitmaschine zu konstruieren. Die Nazis, die sich bekanntlich nicht um Feinheiten des Geistes scherten, stecken das Mädchen in der Geschichte in eine der Anstalten, in denen sie geistig behinderte Menschen ermordeten. Die Aufgabe des Helden sollte es sein, das Mädchen aus der Tötungsanstalt Hadamar zu retten, damit er mit seiner Hilfe in die Gegenwart zurückkehren kann.

Ganz schön abgedreht, was? Wie kam ich überhaupt auf die Idee mit der Zeitmaschine?

Nun, auf manchen TV-Sendern scheinen Dokumentationen über das Dritte Reich und den 2. Weltkrieg rund um die Uhr zu laufen. Alle diese Berichte haben etwas gemein: Sie wurden in schwarzweiß gefilmt. Das führt dazu, dass die Welt der 30er und 40er Jahre des 20. Jahrhunderts uns erscheint, als würden wir sie durch eine Milchglasscheibe betrachten. Die alten Filme haben etwas an sich, das sie der Realität ein Stück zu entrücken scheinen. Ist das tatsächlich so passiert oder nur ein alter Ufa-Film?

Wie war das eigentlich wirklich? Wie fühlte es sich wohl an, mitten in diesem Geschehen, in dieser Zeit gefangen zu sein? Ohne verrauschte Schwarzweißbilder, sondern in Super-HD-Qualität? Die Idee war, jemanden aus der Gegenwart in die Vergangenheit zu transportieren, wo er Verfolgung, Deportation und Todesangst am eigenen Leib erlebt. Und das funktioniert im Roman eben immer mit einer Zeitmaschine.

Aber halt! Da war er doch gewesen, der zweite Legostein! Was ist ein Mensch wert? Und wer bestimmt diesen Wert? Die Anstalt Hadamar! Was wusste ich denn eigentlich darüber? Das war doch eine Art Konzentrationslager gewesen, oder nicht?

Wie die meisten meiner Zeitgenossen hatte ich davon gehört, dass in Hadamar irgendetwas Schreckliches passiert war, mehr nicht. Ich begann mich also mit der Geschichte der Euthanasie zu beschäftigen. Ich besuchte die Gedenkstätte, durchforstete das Internet und besorgte mir Fachliteratur. (An dieser Stelle möchte ich allen interessierten Lesern die Bücher von Ernst Klee empfehlen. Sie wurden zu einer meiner wichtigsten Informationsquellen.)

Nun passierten zwei Dinge: Ich stieß auf faszinierende Lebensgeschichten von Menschen, deren Schicksal mit der Aktion T4 verknüpft war, und über die kaum jemand je berichtet hatte. Zweitens wuchs mein Respekt vor der Aufgabe, die sich da vor mir auftürmte. Schließlich wollte ich über ein dunkles und ziemlich heikles Kapitel deutscher Geschichte schreiben. War ich als Autor reif dafür? Einen zeitgeschichtlichen Roman zu verfassen ist anspruchsvoller als einen Thriller zu entwerfen. (Im Nachhinein habe ich festgestellt, dass es umgekehrt ist. All die hochtrabenden Literaturkritiker sollten mal versuchen, einen brauchbaren Krimiplot zu entwerfen. Ich halte jede Wette, dass sie gnadenlos scheitern werden.) Trotzdem bedeutete der Genrewechsel ein Wagnis. Ich würde mir niemals anmaßen, mich auf eine Stufe mit einem Dieter Noll oder einem Erich Maria Remarque stellen zu wollen.

Mir wurde klar, dass ich sehr viel mehr Recherchearbeit in dieses Projekt stecken musste als in meine anderen Bücher, aber es hatte mich gepackt. Ich fand mehr Legosteine, als ich verarbeiten konnte, und ich wusste, ich MUSS diesen Roman schreiben. Und ich musste ihn an einem Zeitpunkt beginnen, der viel weiter zurückliegt als das eigentliche Verbrechen, um das es am Ende des Romans geht.

Auf welche historischen Personen ich stieß und welche Schwierigkeiten sich mir noch in den Weg stellten, von denen ich nichts ahnte, davon demnächst mehr.


13.03.2020

Schon wieder sind etliche Wochen vergangen, ohne dass ich dazu gekommen bin, mehr über die Entstehung und die Hintergründe von "Die Unwerten" zu berichten.

Immerhin habe ich für alle Leser, die auf die Fortsetzung warten, gute Neuigkeiten: Der 2. Teil um Hannah Bloch ist im Kasten.

Die ersten Kritiken und Rezensionen zu Teil 1 treffen auch nach und nach ein, und sie hauen mich, ehrlich gesagt, um. Als der Erscheinungstermin näherrückte, wurde ich hypernervös. Was in aller Welt hatte mich geritten, ein so heikles und ernstes Thema wie die Euthansieverbrechen der Nazis in einem Unterhaltungsroman zu verarbeiten? Nun, in erster Linie bin ich meinem Instinkt gefolgt. Nachdem ich so viel dazu recherchiert hatte, drängten sich mir die Figuren, die im Roman auftreten sollten, geradezu auf und ließen mich nicht mehr in Ruhe, bis ich endlich anfing.

Den Auslöser machte eine zufällige und unerfreuliche Begegnung mit jemanden, den ich nicht kannte (und auch gar nicht näher kennenlernen will). Ich erwähnte in einem beiläufigen Gespräch, dass ich Romanautor sei und an einem Buch über die Aktion T4 und das Dritte Reich arbeite. Seine ersten Äußerungen machten mich bereits misstrauisch, und irgendwann fiel dann der Satz: "Die Gaskammern dienten ja nur der Desinfektion, das weiß man ja heute. Aber das darf man ja nicht sagen."

In diesem Moment passierte etwas, was einem Autor eigentlich nicht passieren sollte: Ich war sprachlos. Sprachlos und fassungslos. Ich weiß natürlich, dass es Wirrköpfe gibt, die den Holocaust leugnen, aber unmittelbar damit konfrontiert zu werden, das war mir noch nie zuvor widerfahren. Ich merkte schnell, dass es sinnlos war, zu diskutieren und zu argumentieren, und ich ließ ihn stehen. Aber das Erlebte ließ mich nicht los. Hätte ich ihn wegen Volksverhetzung anzeigen sollen? Was hätte ich tun sollen? Ihn vom  Gegenteil überzeugen? Ich weiß es bis heute nicht.

Aber mir wurde klar, ich musste diesen Roman schreiben, ich musste ihn für mich schreiben. Weil ich etwas tun wollte. Und da ich nun einmal Bücher schreibe, sollte es in dieser Form geschehen. „Die Unwerten“ ist der Versuch, einen kleinen Beitrag zu leisten, damit die Opfer niemals vergessen werden.

Die Nazis verfielen in den Wahn, jeden, der nicht ihrem Idealbild entsprach, zu unterdrücken oder schlimmstenfalls zu töten. Dieses Buch soll meine Leser daran erinnern, dass kein Mensch weniger wert ist als ein anderer, nur weil er anders aussieht, aus einer anderen Kultur kommt oder eine andere Hautfarbe besitzt. Die Verbrechen der Nationalsozialisten dürfen sich niemals wiederholen, und doch scheint es, als ob wir in der heutigen, hysterischen Zeit wieder darauf zusteuern. Es begann mit Worten, nicht mit der Vernichtung lebensunwerten Lebens.

Und ich möchte meine eigenen Worte dagegen setzen.

Ich erwähnte eingangs meinen Respekt vor dem Projekt. Nun könnte man mir vorwerfen, dass die Euthanasie kein Thema für die Belletristik ist, aber ich bin anderer Meinung. Um Menschen schwierige Themen nahezubringen, ist der erhobene Zeigefinger meines Erachtens kein gutes Mittel. Warum nicht die zeitgeschichtlichen Aspekte und Hintergründe in eine spannende Geschichte verpacken und damit den Leser zur Beschäftigung mit diesen Inhalten anregen? Schließlich geht es im Roman wie in der Realität um Menschen und deren Lebenswege. Doch ich stieß hier auf ein scheinbar unüberwindbares Problem.

Als ich meiner Frau erzählte, ich wolle einen Roman über die Euthanasieverbrechen schreiben, sagte sie sofort: „Das kannst du nicht bringen. Darüber will niemand lesen.“ (Eigentlich hat meine Frau immer Recht, aber hier irrte sie.)

Ich rief meine Agentin an und auch sie warnte mich, bestimmte Szenen zu drastisch zu schildern. Ich entschied mich für einen Mittelweg. Ereignisse wie die in Brandenburg-Havel stattgefundene „Probevergasung“ konnte und wollte ich nur bis zu einem gewissen Punkt zeigen. Dieses uns heute in seinen Einzelheiten unvorstellbar grausame Ereignis fand übrigens nicht zeitgleich mit dem Treffen der T4-Ärzte statt. Wie beschrieben, ereignete sich die Konferenz am 4. Januar 1939 im Columbushaus in Berlin. Anwesend waren 24 Personen. Es ist nicht ganz klar, was danach passierte. Offenbar fuhr das T4-Personal am selben Tag mit einem Bus der Reichspost in die Tötungsanstalt Grafeneck. Es wird aber auch berichtet, die Ärzte Schumann und Baumhard (der später in Hadamar Oberarzt wird) wären nach Brandenburg zu besagter „Vorführung“ gefahren. Hier habe ich mir gewissen Freiheiten erlaubt. Im Roman geht es darum, dass Lubeck (und mit ihm der Leser) begreift, was auf ihn zukommt.

Ob die Ermächtigung Hitlers, die Werner Blankenburg im 4. Kapitel erwähnt, tatsächlich bei dieser Zusammenkunft verlesen wurde, ist historisch nicht verbürgt, aber sicher kannten alle anwesenden Mediziner den Erlass. Hier noch einmal der exakte Wortlaut:

 

Adolf Hitler                   Berlin, den 1. Sept. 1939

 

Reichsleiter Bouhler und

Dr. med. Brandt

 

sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranke bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.

 

Nachdem ich dieses Kapitel geschrieben hatte, legte ich eine Pause ein und hätte das Projekt beinahe wieder fallen gelassen. Die Schilderung der Vorgänge erschien mir zu entsetzlich für einen Roman. In meiner Vorstellung jedoch ging die Handlung hinter der geschlossenen Tür der Gaskammer weiter. „Die Unwerten“ ist der einzige Roman, der mich schlaflose Nächte gekostet hat.

Historiker mögen mir verzeihen, wenn die Szenen, die in der Zwischenanstalt Herborn und in der Tötungsanstalt Hadamar spielen, in einigen Details meiner Fantasie entspringen. Das reale Grauen des Alltags in diesen Anstalten ist so unvorstellbar, dass ich es im Roman durch eine Art Milchglasscheibe beschreiben musste.

Heute bin ich sehr froh (und auch ein bisschen stolz), dass ich "Die Unwerten" geschrieben habe. Wie ich den ersten Eindrücken meiner Leser entnehmen kann, ist es mir gelungen, das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte vor ihren Augen lebendig werden zu lassen. Und so habe ich auf eine gewisse Weise doch noch meinen Zeitreiseroman geschrieben.

Und darum geht, das ist es, was zählt: Wir dürfen niemals vergessen, wozu Menschen fähig sind. Es ist unser Erbe und unsere Verantwortung, dafür zu sorgen, dass es nicht wieder geschieht.



23.02.2019

Wie "Das Ambrosia-Experiment" entstand ...

Oft schießen mir Ideen für neue Romane durch den Kopf, die zuerst noch sehr verschwommen und undeutlich sind. Das kann eine Anfangsszene sein, ein packender Showdown oder einfach nur die Vorstellung von einer Figur, die mich nicht mehr loslässt. Ganz gleich, wie verrückt oder seltsam eine Idee mir beim zweiten Blick erscheint, halte ich sie trotzdem fest. Der Turm aus Schreibkladden (ich bin immer noch nicht dazu gekommen, alle Einfälle zu sichten und zu ordnen,) wächst beständig.

Beim Durchblättern dieser Ideenkladden passiert dann manchmal etwas geradezu Magisches: Auf wundersame Weise geht eine Idee mit einer anderen eine Art chemische Reaktion ein, und es entsteht etwas Neues, Elektrisierendes. Oft wird dann das, was unbewusst hinter einer einzelnen Idee steckt, erst richtig sichtbar. So war es auch beim „Ambrosia-Experiment“.

Von Anfang an drehte sich alles um Jule Rahn. Es gibt eine Menge Filme und Romane, die auf einer ähnlichen Idee beruhen wie Hitchcocks „Das Fenster zum Hof“. Jemand beobachtet einen Mord, aber aus irgendeinem Grund glaubt ihm niemand und er gerät durch eigene Nachforschungen in Gefahr. Diese arg strapazierte Thrilleridee habe ich auch benutzt. Da war diese Figur in meinem Kopf, Jule Rahn. Obwohl sie inmitten einer großen Stadt lebt, ist sie sehr einsam. Da gute Romanfiguren extrem sein sollen, reichte mir das nicht. Jule ist nicht nur einsam, sie steckt auch voll Selbstunsicherheit und schrecklichen Ängsten. Sie ist neurotisch, kompliziert und ziemlich schräg. Gleichzeitig wünscht sie sich nichts mehr, als so normal zu sein wie andere Menschen. Sie seht sich nach Liebe, nach einem Du. Aber sie weiß, so verrückt, wie sie ist, hat sie kaum eine Chance, einen Mann kennenzulernen. Aufgrund der furchtbaren Dinge, die sie erlebt hat, steckt sie in einem Teufelskreis aus Angst und Einsamkeit. Ihre Ängste sind so übermächtig, dass sie sich nicht mehr aus ihrer Wohnung traut. Wenn sie es doch tut, dann nur auf zuvor festgelegten Routen, von denen sie niemals abweicht. Sie flüchtet sich in einen übersteigerten Ordnungssinn und in Rituale, die einem Phileas Fogg - der berühmten Figur von Jules Verne - alle Ehre machen würden. Ich war sicher, dass meine Leser Jule vom ersten Moment an ins Herz schließen würden, denn trotz ihrer Ängste besitzt sie ein Kämpferherz.

Ich wollte nun, dass am Anfang des Romans, nachdem man Jules Schrullen kennengelernt hat, sehr schnell etwas passiert, das sie zwingt, aus ihrem streng geregelten Tagesablauf auszubrechen – natürlich ein extremes Ereignis.

Ich spielte mit verschiedenen Ideen herum. In einer der ersten Versionen sollte Jule einen Mord beobachten und ihn der Polizei melden. In der Nachbarwohnung geschehen seltsame Dinge, und Jule wendet sich an die Polizei. Was nun passiert, überfordert sie völlig: Ein hartgesottener Mordermittler quartiert sich in ihrer Wohnung ein, um das Haus gegenüber zu observieren. Die beiden müssen miteinander klarkommen, ob sie wollen oder nicht, und verändern einander im Lauf der Handlung. Leider fand die Idee später im Roman keinen Platz mehr; übrig blieb nur der Eisenbahnwaggon, in dem Prinz haust; und in dem er Jule in Sicherheit bringt. (Die Idee zu diesem Waggon und Kalupkas Schrottplatz stammt aus einem anderen Roman, der noch halb fertig in meiner Schublade liegt, und es wohl auch bleiben wird. Darin ging es um Zeitreisen. Der Eisenbahnwaggon geht wohl auf ein Buch zurück, das ich mal gelesen habe, und in dem Einsteins Relativitätstheorie mithilfe eines Eisenbahnzugs erklärt wird. Man merke - alles bleibt irgendwie im Kopf eines Autors hängen und wird verarbeitet.)

Ich entschied mich dann dafür, dass Jule zu Beginn der Geschichte mit ihren selbst auferlegten Regeln bricht und prompt in einen fürchterlichen Schlamassel gerät. Sie stört einen Profikiller bei der Arbeit – eine ziemlich üble Geschichte. Und sie ist der Anlass dafür, dass Jule nicht so weitermachen kann wie bisher. Sie ist gezwungen zu handeln und bekommt ausreichend Gelegenheit, über sich selbst hinauszuwachsen. A star was born! Jule ist meine Lieblingsfigur. Ich mag sie mehr als alle anderen Charaktere, die ich mir je ausgedacht habe.

Um einen Roman zu schreiben, braucht man nicht nur eine Idee, sondern hunderte. Vor einigen Jahren hatte ich einen Roman mit dem Titel „Das Methusalem-Gen“ begonnen. (Den ich aber nie zu Ende geschrieben habe.) Darin ging es um eine Reihe von Kindern, die verschwunden waren, und die allesamt tödliche Krankheiten überlebt hatten. Ich griff diese Idee wieder auf, und diesmal machte ich aus den Kindern alte Menschen. Nicht nur Jule ist einsam, auch ihre Nachbarn sind es – alte Leute, die keine Familie und keine Freunde mehr haben. Sie sind die Einzigen, zu denen Jule Kontakt pflegt. Und plötzlich verschwinden in Jules Umgebung alte Menschen – ihre einzigen Freunde! Jule bleibt keine Wahl, sie MUSS herausfinden, was mit ihnen geschieht. Doch dazu muss sie ihre Angst überwinden; einen größeren Kampf kann es nicht geben.

„Das Methusalem-Gen“ war als moderner Vampir-Roman geplant, und das gilt auch für „Das Ambrosia-Experiment“. Wer das Buch noch nicht gelesen hat, sollte jetzt besser die nächsten Abschnitte überlesen.

Oft ist in den Medien vom Raubtierkapitalismus die Rede, und von Blutsaugern – im finanziellen Sinn. Das Kostbarste, was ein Mensch besitzt, ist sein Leben. Es ist mehr wert als alles Geld der Welt. Denn wenn er sterben muss, nutzt ihm sein Reichtum nichts mehr. Da ist sie wieder, die „Was wäre wenn-Frage“. Was wäre, wenn es eine Möglichkeit gäbe, den Alterungsprozess zu stoppen oder wenigstens zu verlangsamen? Wie weit würden Menschen gehen, um ihr eigenes Leben verlängern zu können? Man braucht wohl nicht lange darüber nachzudenken – vermutlich sehr weit. Wahrscheinlich würden die meisten über Leichen gehen. In ähnlicher Form habe ich diese Frage auch in „Jenseits der Nacht“ gestellt – wenn auch eine ganze andere Geschichte dabei herauskam.

Weltweit wird mit Hochdruck an dem Geheimnis des Alterns geforscht. Konzerne wie Google beschäftigen im Silicon-Valley die besten Genetiker und Biologen, um dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, und geben Millionen von Dollar aus. Was wäre nun, wenn ausgerechnet jene Gruppe der Bevölkerung, die im modernen Turbokapitalismus so gut wie keinen Wert mehr darstellt, den Schlüssel zu einem ultralangem Leben in der Hand hielte? Aber lesen Sie selbst …















18.01.2019

Mit meinem Schreib-Blog scheint es mir zu gehen wie mit dem berühmten Speicher, den man immer schon mal aufräumen wollte - oder wie mit dem 1. Januar, dem Stichtag aller "Diesmal-werde-ich-abnehmen-Willigen" (zu denen ich auch gehöre): Zwei Wochen später stellt man fest, dass es wieder mal bei Vorsätzen geblieben ist.

Zu meiner Entschuldigung sei angemerkt, dass die vergangenen Monate allerdings auch mit sehr viel harter schriftstellerischer Arbeit angefüllt waren. In kurzer Abfolge erscheinen nun zwei neue Thriller; das bedeutete zweimal intensive Lektoratsarbeit. Im Mai des letzten Jahres habe ich außerdem einen weiteren Roman in Angriff genommen, der mir wider Erwarten leicht und schnell aus der Feder floss; dennoch blieb für den Blog einfach keine Zeit.

Der erste der beiden Thriller mit dem Titel "Jenseits der Nacht" ist bei Digital-Publishers erschienen und wird noch bis zum 5. Februar exklusiv bei Thalia als eBook angeboten. Es ist einer der Romane, von denen ich dachte, das Schreiben würde mir leicht fallen, aber das Gegenteil war der Fall. Im Nachhinein liebt man diese Bücher ein bisschen mehr als andere - vielleicht, weil sie so etwas wie Sorgenkinder sind, die mehr Liebe und Aufmerksamkeit brauchen als die braven Plagen. Es war zudem eine heilsame Lehre, dass man als Autor niemals glauben sollte, nach fünfzehn Romanen laufe alles eh wie geschmiert.

Bevor ich eine neue Geschichte beginne, hole ich meine Notizhefte und Schreibkladden hervor. Wenn man sie übereinanderlegt, erreicht der Stapel eine stattliche Höhe und endet ungefähr auf Höhe der Schreibtischplatte. Immer wieder nehme ich mir vor, die vielen Ideen und Kritzeleien mal in eine sinnvolle Ordnung zu bringen, aber damit geht es mir wie mit dem oben erwähnten Speicher. Es kommt immer etwas dazwischen.

Vielleicht interessiert den ein oder anderen Leser die Entstehungsgeschichte eines Romans. Hier kommt also die schwierige Geburt von "Jenseits der Nacht".

Ich ging also den Stapel Heft für Heft durch auf der Suche nach einem Einfall, der mich zu einer Geschichte führen würde. Es gibt eine ganze Reihe von kurzen Plots, über die ich beim Blättern immer wieder mal stolpere, die ich aber nie umgesetzt habe. Einer dieser Plots war "Stromschnellen".

Grob umrissen hatte ich mir folgendes ausgedacht: Lisa Wegener (die damals noch Julia Brendel hieß) erwacht in einem Krankenhaus und kann sich an nichts erinnern. Neben ihrem Bett sitzt ein Mann, der behauptet, ihr Ehemann zu sein. Er nimmt sie mit in sein Haus, das in einem abgelegenen Bergdorf in der Nähe eines reißenden Flusses steht. (Aus unerfindlichen Gründen wollte ich einen Showdown auf dem Fluss haben, daher der Arbeitstitel "Stromschnellen".)  Im Laufe der Handlung begreift Lisa, dass mit dem Typ etwas nicht stimmt. Nach und nach findet sie heraus, was mit ihr geschehen ist und gerät in große Gefahr.

An und für sich kein schlechter Plot, aber er hat einen gravierenden Haken: Diese Geschichte wurde in ähnlicher Form schon tausendmal erzählt. Dutzend Romane dürften auf diese Weise anfangen. Nicht besonders originell, was?

Trotzdem hielt ich an der Idee fest. Im ersten Entwurf sollte der Kerl in dem einsamen Haus ein Psychopath sein, der Lisa gefangenhält, aber auch das verwarf ich als nicht besonders einfallsreich. Als Nächstes beschäftigte ich mich erst einmal mit dem sogenannten "Plot hinter dem Plot", andere nennen es auch den Plan des Schurken. Um die Sache möglichst trickreich zu gestalten, überlegte ich mir Folgendes: Was wäre, wenn Lisa zusammen mit ihrem Liebhaber (eben dem Typ, der sich als ihr Mann ausgibt) ihren Mann ermordet hat? Aber sie kommt mit der Tat nicht klar und beschließt, zur Polizei zu gehen und alles zu gestehen. Das kann ihr Liebhaber natürlich nicht zulassen. Es kommt zum Streit, in dessen Folge ein Unglück geschieht. Lisa stürzt in den eiskalten Gebirgsfluss, wird unter das Eis gezogen und stirbt beinahe. Sie verliert ihr Gedächtnis. Ihr Liebhaber nimmt sie mit in das einsame Haus und muss nur dafür sorgen, dass sie mit niemandem Kontakt aufnehmen kann, da sie sich sonst vielleicht erinnert. Dann taucht in dem abgelegenen Dorf ein Mordermittler auf ...

Schon besser, oder? Mir gefiel die Idee so gut, dass ich Feuer gefangen hatte. Ich arbeitete den Mord und das spätere Unglück in allen Details aus und schickte meiner Agentin ein Exposé. (Das mache ich immer. Anschließend diskutieren wir ein bisschen, ändern Dinge oder auch nicht, und dann lege ich los.) Aber diesmal tauchte ein Argument auf, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Zu dem Zeitpunkt, als ich den Roman beginnen wollte, wurde der Thriller-Buchmarkt von Manuskripten überschwemmt, in denen die Hauptfigur das Gedächtnis verloren hat. Als ich vor vielen Jahren mit dem Schreiben begann, brauchte ich mir über solche  Dinge nicht den Kopf zu zerbrechen. Heute sieht das anders aus. Natürlich möchte ich als Autor meine Eigenständigkeit wahren und meinen eigenen Stil kreieren, aber ich unterliege auch gewissen Zwängen des Marktes. Schließlich möchte ich auch etwas verkaufen. Also schien "Stromschnellen" gestorben zu sein. Oder doch nicht?

Ich schob alles zur Seite und beschäftigte mich noch einmal mit dem Mord, der die Ereignisse auslösen sollte. Durch Zufall las ich zur selben Zeit etwas über Kryonik. Ich war überrascht, wie viele Leute sich nach ihrem Tod einfrieren lassen, in der Hoffnung, eines Tages wieder zum Leben erweckt zu werden. Da ich solche abgefahrenen Ideen liebe, baute ich sie in den Plot ein. Vincent van Dyck war geboren - ein wunderbarer Psychopath und Erzschurke, der Lisa das Leben schwer machen sollte. Seine krankhafte Angst, vorzeitig aus dem Leben zu scheiden, formt ihn zu einem wahnhaften Hypochonder, einem kontrollsüchtigen Freak, der Lisa nur aus einem Grund an sich bindet: Er will ständig und ununterbrochen eine Ärztin an seiner Seite wissen. Außerdem war ich überrascht, wie weit die Forschung in Sachen Kryonik inzwischen ist. Konzerne wie Google und Amazon investieren ungeheure Summen in die Suche nach Möglichkeiten, das Leben zu verlängern - ein Thema, dass in "Das Ambrosia-Experiment" eingehender beleuchtet wird.

Da ich von der Idee, dass Lisa ihr Gedächtnis verloren hat, abgerückt war, tauchte die Überlegung auf, den Roman chronologisch zu erzählen. Und das tat ich dann auch. Ich begann mit der Szene, in der Lisa einsieht, dass sie van Dyck verlassen muss, weil er sie sonst in seinem unheimlichen Haus einsperren wird. Hier sieht man schön, dass ursprüngliche Ideen einfließen, allerdings in veränderter Form. Das besondere Haus taucht auf, van Dyck hält Lisa wie eine Gefangene. (Die Idee mit dem Gebirgsfluss ließ ich nach einigen Versuchen fallen. Ich suchte nach Schauplätzen in Deutschland, die dazu passten, und fand auch welche. Aber ich konnte nicht glaubhaft darüber schreiben, weil ich niemals dort gewesen war. Also verlegte ich die Handlung in meine Heimat, den Westerwald.)

Ich schrieb etwa 100 Seiten und merkte irgendwann, dass es nicht gut lief. Ich war unzufrieden und wusste nicht, warum. Ich nahm mir den Anfang nochmal vor und stellte fest, dass ich einen Anfängerfehler begangen hatte. Die Szene in dem seltsamen, würfelförmigen Haus, in dem in einer schwülen Gewitternacht der Strom ausfällt, hatte zwar jede Menge Atmosphäre, aber es passierte eigentlich nicht viel. Dann taucht plötzlich van Dyck auf, den der Leser noch gar nicht kennt, und entpuppt sich sofort als Psychopath. Mir wurde klar, dass ich noch viel weiter vorne anfangen musste. Damit diese Szene nachvollziehbar war, musste der Leser wissen, wie es überhaupt zu dieser Situation gekommen war. Ich hatte mal wieder nicht die Hausaufgaben gemacht und mich zu wenig mit meinen Figuren beschäftigt.

Der neuer Romananfang gelang mir dann auch sehr viel besser. Ich hatte eine toughe Heldin, die in ihrer Selbstüberschätzung voller Hybris den Tod eines Menschen verursacht und tief fällt - in van Dycks psychophatische Arme. Im ersten Entwurf war das Opfer noch ein Junge, der im OP stirbt, weil Lisa übermüdet ist. Aber dann fiel mir die Sache mit dem Autounfall ein und es begann wieder besser zu laufen - bis zu dem Moment, in dem Jan Wolzow auftritt.

Natürlich brauchte ich einen Ermittler. Es gibt sehr unterschiedliche Helden dieser Gattung, von Miss Marple bis Schimanski. Mir waren schon immer die Raubeine am liebsten, als machte ich auch aus Wolzow einen eigensinnigen Einzelgänger. (Die Idee, dass er ruhelos auf der Suche nach dem Mörder seiner Frau umherstreift, kam mir übrigens erst sehr spät. Ich musste im Nachhinein noch einige Szenen ändern, damit alles passte. So geht es eben meistens.)

Ich kramte also noch einmal in meinen Notizen und stieß auf einen Typ namens Calum Namara - ein Mordermittler, der ein ziemliches Problem hat. Er wacht an den seltsamsten Plätzen auf; unter anderem in der Garage mit seiner Dienstwaffe im Mund, oder neben seiner Frau, die er offenbar erschossen hat. (Ideen, die ich später in "Der Schacht" und "Freier Fall" verwendete, denn den Roman um Calum Namara habe ich nie beendet.) Ich änderte den Namen in Jan Wolzow und hatte meinen Ermittler.

In der ursprünglichen Fassung muss Wolzow in seiner ersten Szene zwei Teenies retten, die vom Limburger Dom springen wollen. Er versaut es und hat ein Riesenproblem. Die Szene flog dann später raus, weil sie nicht zum Rest der Geschichte passte und auch nicht nötig war. Auf meiner Festplatte schlummern Dutzende solcher verworfenen Szenen. Von "Nexx-Die Spur" habe ich etwa 200 Seiten neu geschrieben.

Nach und nach entwickelten Lisa und Wolzow ein Eigenleben. Wenn das geschieht, kann ich sicher sein, auf der richtigen Spur zu sein. Die ursprüngliche Idee von dem Unglück in dem zugefrorenen Gebirgsbach ließ sich dann auch noch in veränderter Form umsetzen. Sie entwickelte sich zum Showdown. Verrückterweise endet "Jenseits der Nacht" (die Idee zum Titel kam mir erst ganz zum Schluss) genau dort, wo der Roman eigentlich beginnen sollte: In einem Krankenhaus. Mehr verrate ich natürlich noch nicht.

Man sieht also, dass der Weg zu einer endgültigen Fassung weit und voller Umwege ist. Wie der Roman "Das Ambrosia-Experiment" entstand, darüber berichte demnächst. (Wenn ich den Speicher aufgeräumt habe.)

Ich wünsche allen Lesern viel Spaß mit "Jenseits der Nacht."




05.12. 2018

Wenn ich nicht immer so huddeln würde, und nicht ein unüberschaubares Gewirr aus Zetteln, Notizbüchern und Dateien hätte, wüsste ich auch sofort, wie Lisa dem Mörder auf die Spur kommt. Es gibt kaum etwas Ärgerlicheres, als Ideen, die man auch noch festgehalten hat, nicht mehr wieder zu finden.


12.01.2018

Etwa ein halbes Jahr lang habe ich nun am neuen Manuskript mit dem Arbeitstitel "Jenseits der Nacht" geschrieben. Die letzten Kapitel ziemlich lustlos, was viele überraschen wird, mich übrigens auch. Eigentlich bereitet mir der Schluss eines Romans erfahrungsgemäß die wenigsten Probleme und den meisten Spaß. Es ist nun klar, wohin die Reise geht, was aus den Figuren wird und wie die Geschichte enden soll. Doch diesmal beschlich mich nach zwei Dritteln der Handlung das Gefühl, das irgendetwas nicht stimmt. Das passiert schon mal, und ich habe gelernt, mich dadurch nicht beunruhigen zu lassen. Doch diesmal ließ sich das Gefühl nicht vertreiben. Ich war nahe dran, das verdammte Ding in die Tonne wandern zu lassen, was wiederum ein "Nein! Tu das nicht! Das wolltest du bei ,Nexx-Die Spur' auch!" meiner Agentin zur Folge hatte.

Stimmt, ,Nexx' landete zweimal im Papierkorb. Es ist der einzige Roman, zu dem ich keine handschriftlichen Aufzeichnungen mehr besitze, weil ich so frustriert war, dass ich an einem Samstagmorgen nicht nur das unfertige Manuskript von meiner Festplatte löschte, sondern auch alle Notizen in die grüne Tonne im Hof pfefferte. Da ich es aber nie dabei belassen kann, Dinge nicht zu Ende zu bringen - egal, was dabei herauskommt - holte ich Nexx wieder aus dem Abfalleimer, schrieb die eine Hälfte neu und die andere um, und landete meinen bisher größten Erfolg. Also blieb ich auch diesmal dran ... aber das neue Manuskript fühlt sich immer noch an wie eine Katze, die nicht gestreichelt werden will - widerspenstig und jederzeit bereit, mir die Hände zu zerkratzen.

Bis gestern also erschien mir die Arbeit an "Jenseits der Nacht" nicht nur wie das planlose Herumwühlen in einer riesigen Kiste mit Legosteinen - das ist relativ normal, ich kann's nicht anders. Inzwischen aber hatte ich die Steine zu einem wackeligen literarischen Eifelturm zusammengebaut, und zwei seiner vier Säulen drohten einzustürzen. Und ich wusste einfach nicht, warum.

In solch hartnäckigen Fällen helfen zwei Sachen: 1. Liegenlassen. 2. Sich einen Testleser suchen.

Möglichkeit Nr. 1 scheidet bei mir in der Regel aus, weil Geduld nicht zu meinen Talenten gehört.

Also blieb nur Möglichkeit Nr. 2.

Ich brach also die Überabeitung 100 Seiten vor dem erlösenden Wort "ENDE" ab und schickte das Manuskript meiner Agentin. Und dann passierte etwas sehr Merkwürdiges .(Das passiert offenbar jedes Mal, wenn ich dir unfertige Sachen schicke, liebe Anna, warum das so ist, weiß ich nicht.) Die wenigen Anmerkungen, die noch nicht mal am Kern des Problems kratzten, erwiesen sich wieder mal als Brechstange, um mein vernageltes Kreativitätszentrum aufzuhebeln.

James N. Frey, der "Schreibdoktor", dessen Tipps ich sehr schätze, sagte mal sinngemäß: "Mann muss lernen, den Traum noch einmal zu träumen."

Das bedeutet, die geniale Grundidee zu einem Roman auch dann noch so umzusetzen, wenn sie vom Befingern, Drücken und Kneten ein bisschen abgegriffen ist. Mir wurde klar, dass ich mal wieder meinen alten Fehler wiederholt habe (der in meinen Augen ein typischer Anfängerfehler ist - was mir eigentlich nicht mehr passieren sollte), nämlich mit einem unheimlichen, mysteriösen Start eine Menge Atmosphäre zu erzeugen, in dem aber ansonsten nichts von Belang passiert. Weil ich das instinktiv spürte, begann ich, die Abschnitte wieder und wieder umzustellen und zusammenzukleben. Irgendwann war ich dann so "betriebsblind", dass ich den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sah. Dabei lag die Lösung zum Greifen nah: Es sind die beiden Kapitel, die ich bereits geschrieben, aber verworfen hatte! Und plötzlich lösen sich sämtliche Probleme von Plot und Motivation der Figuren auf wundersame Weise auf.

Ich glaube, von "Nexx-Die Spur" existieren in den Tiefen meines Computer mehr als vier verschiedene Romananfänge. Da bin ich diesmal noch gut weggekommen. ;-)

Also: Deckel auf, etwa 100 Seiten in die Tonne und tippen, was das Zeug hält.


Das "Herumschleichen" um die Tastatur.

Dieses Herumschleichen setze ich gleich mit der berühmt-berüchtigten Angst des Torwarts vor dem Elfmeter ... oder des Autors vor dem leeren Blatt. Ich kenne diese Angst und habe sie oft genug überwunden. Aber sie kommt - genau wie meine Muse - immer wieder zurück. (Die beiden scheinen sich zu kennen. Manchmal habe ich den Eindruck, sie sitzen oben auf der Kante des Bildschirms, lassen die Beine baumeln, saufen Tequila und lachen sich über meine Versuche, unverbrauchte Sätze zu tippen, kaputt.)

Was macht man in so einem Fall?

Ich schalte den Rechner ein, warte eine halbe Ewigkeit, bis die alte Kiste hochgefahren ist, und gehe in der Zwischenzeit die Notizen durch, die ich gestern vor dem Schlafengehen gemacht habe. (Die besten Ideen habe ich oft kurz vor dem Schlafen, keine Ahnung, warum das so ist.)

Heute habe ich den Vorsatz, endlich wieder "richtig" an dem vertrackten Manuskript zu arbeiten. (Fortan kurz MS genannt.) DIe Finger schweben über der Tastatur, der Kopf ist leer wie eine hohle Nuss und die Muse sitzt auf dem Bildschirm und grinst sich eins. Mal sehen, was auf facebook los ist.

Das dauert etwa eine Viertelstunde, es ist jetzt kurz vor zehn. Jetzt wird's Zeit, endlich anzufangen, also gehe ich nochmal die Kritzeleien von gestern durch. Irgendwie hat sich das mal besser angefühlt. Aber da läuft ja noch die Leserund auf Lovelybooks, ich schaue schnell mal rein, ob jemand etwas Neues gepostet hat - man muss sich um seine Fans kümmern. Anschließend noch das Amazon-Ranking gecheckt und die Clicks ausgerechnet, die ich seit gestern auf meiner Homepage dazugekommen sind. Beides erweist sich nicht unbedingt als Motivationshilfe.

Inzwischen ist es halb elf, ich habe noch keine Zeile geschrieben. Ein fehlendes Komma ergänzt - immerhin.